Der Uferpark am Griebnitzsee

DER UFERWEG AM GRIEBNITZSEE
EIN KURATORISCHES ESSAY VON VERENA VOIGT M.A.
Gesellschaft für zeitgenössische Konzepte e.V.

Joulia Hoppen, Palimpsest, 2022. Der Uferweg am Griebnitz #konfliktlandschaft #conflictlandscape
Joulia Hoppen, Palimpsest, 2022. Der Uferweg am Griebnitz #konfliktlandschaft #conflictlandscape

Als ich im Februar 2021 die vielfältigen „Zaunkonstruktionen“ am Griebnitzseeuferpark erstmals entdeckte, waren wir auf der Suche nach Relikten der „Potsdamer Mauer“: mit unerwartetem Erfolg. Die ersten Erkundungen der innerdeutschen Staatsgrenze schien meine Kamera durch geisterhaft-verlassene Szenarien von ausgefrästen kyrillischen Schriftzeichen, Gartenstühlen & Treppenstufen, Zäunen & Schlössern dokumentieren zu wollen. Während der gemeinsamen „Spurensicherungen“ mit Ruppe Koselleck und den Studierenden des Fachbereichs Kunst der Universität Potsdam (2021 | 2022) schafft die Künstlerin Joulia Hoppen die Großformatserie „Palimpsest 1-8“, die die Undurchdringlichkeit von unaufgearbeiteten Geschichtskonstruktionen dokumentiert, die uns hier begegnen. Die Entdeckungen im ehemaligen Grenzgebiet wurden für mich zu „Heimsuchungen“ in einem Geschichtskolloquium, in dem ich stets das Gefühl hatte, von dem Wichtigsten gerade wieder abgelenkt worden zu sein.

Eine Vielzahl von Analysen & Perspektiven, gesellschaftlichen Prozessen & Haltepunkten der Geschichte treffen am Griebnitzseeuferpark aufeinander. Jede für sich könnte ein Memorial einfordern. Eine Zusammenschau der kafkaesken Szenarien lässt den Begriff der „Enteignung“ aufschimmern wieder verblassen. Regimegegner*innen wurden hier (1933, 1945 und später) ihres Eigentums beraubt. Regimeunterstützer*innen profitierten vielfach. Restitutionen verliefen auch nach 1989 noch schleppend. Vergleichende Rechtspraxis, Provenienzforschung, Verwaltungsgeschichte – das umfangreiche Material von nach 1945 wartet hier noch auf wissenschaftliche Reflexion. Von der Politik wird alles und nichts erwartet. Enteignet wird hier nichts mehr. Der 2,8 Kilometer lange einstige Kolonnenweg der DDR-Grenzer entlang des südlichen Griebnitzseeufers war nach dem Mauerfall zu einem beliebten Spazier- und Radweg geworden. Bis 2004 bzw. 2009 war er teilweise wieder zugänglich. Zurück bleiben zunächst einmal sechs öffentliche Zugänge zum See. Zur Disposition stehen die Begriffe des Privaten und Öffentlichen.

Die historischen Verstrickungen, Verwaltungsskandale in älterer und jüngerer Zeit haben hier eine fast drei Kilometer lange Konfliktlandschaft geschaffen. Die Spuren der von hier vertriebenen oder deportierten jüdischen Familien sind nahezu gänzlich ausgelöscht. Öffentliche Gedenksteine weisen stattdessen auf Hiroshima und Nagasaki. Die Delegationen der Verhandlungsführer der Potsdamer Konferenz Harry S. Truman, Winton Churchill/ Clement Attlee und Joseph Stalin hatten in den Villen am Griebnitzsee Quartier genommen. In anderen Gebäuden - wie der Villa Sarre, der Villa Herpich und der Villa Schade von Westrum lebten Regimegegner des Dritten Reichs und organisierten z.T. den Widerstand gegen das Nazi-Regime. Und nach 1945?

Eine Publikation dokumentiert all dies: Jörg Limbergs Enzyklopädie „Neubabelsberg. Geschichte und Architektur der Potsdamer Villenkolonie“. 2017 nahmen zahlreiche Gebäudebesitzer an dem „Tag des offenen Denkmals“ teil. Öffnung war also schon einmal möglich. Durch die lückenlose Dokumentation der Bürgerinitiative „Griebnitzsee für Alle e.V.“  https://griebnitzseeufer.de sind alle Wechselfälle seit 2004 nachvollziehbar: aus der Perspektive der Bewohner*innen, für die bis heute die „Sperrungen“ des Uferwegs ein Verlust an Zugänglichkeit bedeutet. Die Publikation „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Die Villen am Griebnitzsee und ihre Geschichte“ (Christoph J. Partsch) erhält Hintergrundmaterial zur Provenienzforschung, Rechtspraxis und manch persönlichen Brief. Die Situation scheint komplex genug für ein erstes Kunstexperiment.

Ab dem Sommersemester 2021 hat Ruppe Koselleck für drei Semester die Professur für Künstlerische Praxis im Fach Kunst an der Universität am Golm inne. Also fahren wir zum Griebnitzsee. Wir beginnen im Abschnitt Stubenrauch-Straße…

Ruppe Koselleck (*1967, lebt und arbeitet in Münster) ist Konzeptkünstler, Philosoph und Soziologe, ausgestattet mit einer seismografischen Wahrnehmungsfähigkeit für historische Konfliktsphären. Er verortet Projekt im internationalen akademischen Netzwerk #konfliklandschaft, dem auch Andreas Brenne angehört. Unsere Posts tragen von nun an den Hashtag #conflictlandscape #konfliktlandschaft. Immer wieder taucht die Frage auf: Ist der Griebnitzsee wirklich ein Ort für „Kunst im öffentlichen Raum“? Warum fühlt sich jede kuratorische Konzeption falsch an; oder zumindest anders als in anderen Städten? Vielleicht. Die alte Frage: Was ist öffentlich? Was privat?

Im Juli 2021 geht es mit seinen Studierenden ins Gelände: Es ist das Jahr, an dem die Installation POST-vs-PROTO-RENAISSANCE (54. Architektur-Biennale Venedig) der ukrainischen Künstlerin Oksana Mas auf dem Griebnitzseeuferweg noch zu sehen war; neben der Arbeit von Kiddy Citny. Die Kunststudierenden identifizieren „Die Gärten des Paradieses“ des „Genter Altars“ von Oksana Mas nicht auf den ersten Blick. Die Details der Nahansicht sind wichtiger: Wer hat die unzähligen Eier eigentlich bemalt? Was sind das eigentlich für seltsame kleinteilige Motive? Sind sie auch alle politisch korrekt? Es kommt auf den Abstand an!

„Kunst ist der Versuch, einen Trauerfall, den Verlust der Vollständigkeit und den Abstieg in eine partielle und fragmentarische Welt zu heilen. (…) Je nach Entfernung zerfällt das Werk wie eine digitale Datei von Eierpixeln, von denen jeder das dramatische Schicksal der Menschheit repräsentiert.“ (e-Flux, 9.5.2011)

Ich frage an, ob wir die anderen Objekte von Oksana Mas der S&P Sahlmann Planungsgesellschaft für Bauwesen mbH in der Stubenrauchstraße 10 ansehen dürfen: Leider nein. (Ich war durch meinen Anruf schon wieder negativ aufgefallen!)

Als wir 2022 mit einer zweiten Gruppe von Studierenden wiederkommen, stehen die bemalten Mauerfragmente „Déjà vu – Ikonen der Freiheit“ (2013) des Mauerkünstlers Kiddy Citny allein am Griebnitzsee. Die Installation von Oksana Mas ist verschwunden. Während uns die Ukraine durch die tägliche Kriegsberichterstattung näher gerückt ist, wird die Leerstelle, die die temporäre Installation von Oksana Mas hinterlässt, zum „Verlust“.

Als ich im Sommer 2023 erneut den Stubenrauchstraßenabschnitt besuche, befindet sich die „Auftragsarbeit“ von Kiddy Citny hinter einem Absperrungszaun: Déjá vu. Während die Zeitungsberichte über das Aufstellen der Installation POST-vs-PROTO-RENAISSANCE noch im Netz sind und an die Partystimmung der Wendezeit und den ersten Jahren danach erinnern, verstärkt der 24. Februar 2022 den Wunsch, irgendwie etwas in die Gegenwart zu retten.

Sena Nisa Aydinli gelingt ein Zufallsfund: im offenen Baukrater wurde beim Abbau der Installation von Oksana Mas eines der bemalten Eier „vergessen“. Sena besorgt einen Eierbecher. Später wird sie das Fundstück auf einem Sockel präsentieren; zusammen mit anderen Installationen und Statements, die sich mit der Konfliktgeografie beschäftigen. Marleen Becker birgt einen drei Meter langen Stahlträger der Installation POST-vs-PROTO-RENAISSANCE und findet beim Ausstellungsaufbau mehr als einen Balancepunkt.

Die künstlerischen Forschungen der Studierenden bringen uns in Kontakt mit den Menschen, die hier leben: in den Villen entlang des ehemaligen Kolonnenweg, am ehemaligen „Uferweg am Griebnitzsee“.

Wir dürfen die Fundstücke, Reflexionen und Statements gleich zweimal ausstellen: vom 12.-27. Juli 2022 als #conflictlandscape will be present im PopUp for society im Holländischen Viertel in Potsdam (Hebbelstr. 43) und in etwas revidierter Form vom 10. Dezember 2022 bis 4. März 2023 in der Galerie Art Affairs am Griebnitzsee (Behringstr. 92).

Ein Jahr später erscheint diese Publikation: DER UFERWEG AM GRIEBNITZSEE

Der Tagesspiegel berichtet am 22. September 2023, dass der „Uferstreit am Griebnitzsee“ nun „ruhend gestellt“ sei. Vielleicht nur eine „Streckung“ der Situation in die Zukunft. Wenige Tage später eröffnet der Verein „Griebnitzsee für Alle“ symbolisch ein Stück Uferweg, das nur über das Wasser erreichbar ist; links und rechts ist das Ufer privat.

Unser Dank geht an die Künstler*innen & Studierenden des FB Kunst am Golm: an Sena Nisa Aydinli, Marleen Becker, Luna Dowideit, Fritz Haun, Ulrike Heisler, Maurice Heilmann, Joulia Hoppen, Felix Florian Müller, Oliver Schmidt, Myriam Stoetzer, Hanne Stohrer, Ida Wuttke & Ruppe Koselleck.

Die Spurensuche, auf die wir Sie als Leser*innen schicken möchten, führt zu diesen seltsamen grünen Zaunkonstruktionen, deren stumme Memorisierungskraft wirksam bleibt.

Am Anfang des Stubenrauch-Abschnitts befindet sich eine Karte des „Uferwegs am Griebnitzsee“, ein Mauer-Memorial und Gedenktafeln für die Maueropfer. Nach einigen hundert Metern laufen Sie auf die erste grüne Absperrung zu, weitere sind entlang der Rudolf-Breitscheid-Straße, der Karl-Marx-Straße, der Virchow-Straße und der August-Bier-Straße und vom Parkplatz am Schloss Babelsberg wiederum parallel zur Karl-Marx-Straße zu entdecken. Insbesondere der „Uferpark“ rechts von der Villa Herpich lädt zum privaten Picknick und illegalen Baden ein.

Wir freuen uns über Ihre Instagram-Posts unter #griebnitzseeuferpark

 

DER UFERWEG AM GRIEBNITZSEE

Editorial Design: Joulia Hoppen