Der Uferpark am Griebnitzsee
DER UFERWEG AM GRIEBNITZSEE
EIN KURATORISCHES ESSAY VON VERENA VOIGT M.A.
Gesellschaft für zeitgenössische Konzepte e.V.

Als ich im Februar 2021 die vielfältigen „Zaunkonstruktionen“ am Griebnitzseeuferpark erstmals entdeckte, waren wir auf der Suche nach Relikten der „Potsdamer Mauer“: mit unerwartetem Erfolg. Die ersten Erkundungen der innerdeutschen Staatsgrenze schien meine Kamera durch geisterhaft-verlassene Szenarien von ausgefrästen kyrillischen Schriftzeichen, Gartenstühlen & Treppenstufen, Zäunen & Schlössern dokumentieren zu wollen. Während der gemeinsamen „Spurensicherungen“ mit Ruppe Koselleck und den Studierenden des Fachbereichs Kunst der Universität Potsdam (2021 | 2022) schafft die Künstlerin Joulia Hoppen die Großformatserie „Palimpsest 1-8“, die die Undurchdringlichkeit von unaufgearbeiteten Geschichtskonstruktionen dokumentiert, die uns hier begegnen. Die Entdeckungen im ehemaligen Grenzgebiet wurden für mich zu „Heimsuchungen“ in einem Geschichtskolloquium, in dem ich stets das Gefühl hatte, von dem Wichtigsten gerade abgelenkt worden zu sein.
Eine Vielzahl von Analysen & Perspektiven, gesellschaftlichen Prozessen & Haltepunkten der Geschichte treffen am Griebnitzseeuferpark aufeinander. Jede für sich könnte ein Memorial einfordern. Eine Zusammenschau der kafkaesken Szenarien lässt den Begriff der „Enteignung“ aufschimmern und wieder verblassen. Regimegegner*innen wurden hier (1933, 1945 und später) ihres Eigentums beraubt. Regimeunterstützer*innen profitierten vielfach. Restitutionen verliefen auch nach 1989 noch schleppend. Vergleichende Rechtspraxis, Provenienzforschung, Verwaltungsgeschichte – das umfangreiche Material von "Nach 1945" wartet hier noch auf seine wissenschaftliche Reflexion. Von der Politik wird alles und nichts erwartet. Enteignet wird hier eigentlich nichts mehr. Der 2,8 Kilometer lange einstige Kolonnenweg der DDR-Grenzer entlang des südlichen Griebnitzseeufers war nach dem Mauerfall zu einem beliebten Spazier- und Radweg geworden. Bis 2004 bzw. 2009 war das Seeufer für alle Bürger wieder zugänglich. Irgendwann begannen die neuen Grenzzäune immer höher zu wachsen. Heute gibt nur noch sechs öffentliche Zugänge zum Griebnitzsee. Es liegt ein Schweigen über der Geschichte und ihren Schichtungen.
Die historischen Verstrickungen, Verwaltungsskandale in älterer und jüngerer Zeit haben hier eine fast drei Kilometer lange Konfliktlandschaft geschaffen. Die Spuren der von hier vertriebenen oder deportierten jüdischen Familien sind nahezu gänzlich ausgelöscht. Öffentliche Gedenksteine weisen stattdessen auf Hiroshima und Nagasaki. Die Verhandlungsführer der Potsdamer Konferenz Harry S. Truman, Winton Churchill/ Clement Attlee und Joseph Stalin hatten in den Villen am Griebnitzsee zusammen mit ihren Delegationen im Sommer 1945 hier Quartier genommen.
Durch die Dokumentation der Bürgerinitiative „Griebnitzsee für Alle e.V.“ https://griebnitzseeufer.de sind die Wechselfälle seit 2004 nachvollziehbar: aus der Perspektive der Bewohner*innen der Villenkolonie, für die bis heute die „Sperrungen“ des Uferwegs ein Verlust an Zugänglichkeit bedeutet.
Was hat das mit Kunst zu tun? Ab Sommersemester 2021 hatte Ruppe Koselleck für drei Semester die Professur für Künstlerische Praxis im Fach Kunst an der Universität am Golm inne. Koselleck (*1967, lebt und arbeitet in Münster) ist Konzeptkünstler, Philosoph und Soziologe, ausgestattet mit einer seismografischen Wahrnehmungsfähigkeit für historische Konfliktsphären. Im Juli 2021 ging es mit seinen Studierenden erstmals ins Gelände: Es war das Jahr, in dem die Installation POST-vs-PROTO-RENAISSANCE (54. Architektur-Biennale Venedig) der ukrainischen Künstlerin Oksana Mas auf dem Griebnitzseeuferweg noch zu sehen war; neben der Arbeit von Kiddy Citny.
Die angehenden Kunstlehrer:innen identifizieren „Die Gärten des Paradieses“ des „Genter Altars“ von Oksana Mas nicht auf den ersten Blick. Viel wichtiger sind die Details der Nahansicht: Wer hat die unzähligen Eier eigentlich bemalt? Was sind das eigentlich für seltsame kleinteilige Motive? Sind sie auch alle politisch korrekt? Es kommt auf den Abstand an!
„Kunst ist der Versuch, einen Trauerfall, den Verlust der Vollständigkeit und den Abstieg in eine partielle und fragmentarische Welt zu heilen. (…) Je nach Entfernung zerfällt das Werk wie eine digitale Datei von Eierpixeln, von denen jeder das dramatische Schicksal der Menschheit repräsentiert.“ (e-Flux, 9.5.2011)
Ich frage an, ob wir die anderen Objekte von Oksana Mas der S&P Sahlmann Planungsgesellschaft für Bauwesen mbH in der Stubenrauchstraße 10 ansehen dürfen: Leider nein.
Als wir 2022 mit einer zweiten Gruppe von Studierenden wiederkommen, stehen nur noch Mauerfragmente „Déjà vu – Ikonen der Freiheit“ (2013) des Künstlers Kiddy Citny da. Die Installation von Oksana Mas ist verschwunden. Während uns die Ukraine durch die tägliche Kriegsberichterstattung immer näher rückt, wird die Leerstelle, die die temporäre Installation von Oksana Mas hinterlässt, zum doppelten „Verlust“.
Als ich im Sommer 2023 erneut den Stubenrauchstraßenabschnitt besuche, befindet sich die „Auftragsarbeit“ von Kiddy Citny hinter einem Absperrungszaun. Während die Zeitungsberichte über das Aufstellen der Installation POST-vs-PROTO-RENAISSANCE noch im Netz sind und an die Partystimmung der Wendezeit erinnern, verstärkt der 24. Februar 2022 den Wunsch, die gesamte Geschichte noch mal aufzurollen.
Sena Nisa Aydinli gelingt ein Zufallsfund. Im offenen Baukrater wurde beim Abbau der Installation von Oksana Mas eines der bemalten Eier „vergessen“. Sena besorgt einen Eierbecher. Später wird sie das Fundstück auf einem Sockel präsentieren; zusammen mit anderen Installationen und Statements, die sich mit der Konfliktgeografie beschäftigen. Marleen Becker birgt einen drei Meter langen Stahlträger der Installation POST-vs-PROTO-RENAISSANCE. Beim Ausstellungsaufbau finden wir mehr als einen idealen Balancepunkt.
Die künstlerischen Forschungen der Studierenden bringen uns in Kontakt mit den Menschen, die hier leben: in den Villen entlang des ehemaligen Kolonnenweg, am ehemaligen „Uferweg am Griebnitzsee“. Wir dürfen die Fundstücke, Reflexionen und Statements gleich zweimal ausstellen: vom 12.-27. Juli 2022 als #conflictlandscape will be present im PopUp for society im Holländischen Viertel in Potsdam (Hebbelstr. 43) und in etwas revidierter Form vom 10. Dezember 2022 bis 4. März 2023 in der Galerie Art Affairs am Griebnitzsee (Behringstr. 92).
Ein Jahr später erscheint eine Publikation: DER UFERWEG AM GRIEBNITZSEE
Der Tagesspiegel berichtet am 22. September 2023, dass der „Uferstreit am Griebnitzsee“ nun „ruhend gestellt“ sei. Vielleicht nur eine „Streckung“ der Situation in die Zukunft? Wenige Tage später eröffnet der Verein „Griebnitzsee für Alle“ symbolisch ein Stück Uferweg, das nur über das Wasser erreichbar ist; links und rechts ist das Ufer privat. Es geht weiter ...
Unser Dank geht an die Künstler*innen & Studierenden des FB Kunst am Golm, an Sena Nisa Aydinli, Marleen Becker, Luna Dowideit, Fritz Haun, Ulrike Heisler, Maurice Heilmann, Joulia Hoppen, Felix Florian Müller, Oliver Schmidt, Myriam Stoetzer, Hanne Stohrer, Ida Wuttke & Ruppe Koselleck.
Die Spurensuche, auf die wir Sie als Leser*innen schicken möchten, führt zu diesen seltsamen grünen Zaunkonstruktionen, deren stumme Memorisierungskraft wirksam bleibt. Am Anfang des Stubenrauch-Abschnitts befindet sich eine Karte des „Uferwegs am Griebnitzsee“, ein Mauer-Memorial und Gedenktafeln für die Maueropfer. Nach einigen hundert Metern laufen Sie auf die erste grüne Absperrung zu, weitere sind entlang der Rudolf-Breitscheid-Straße, der Karl-Marx-Straße, der Virchow-Straße und der August-Bier-Straße und vom Parkplatz am Schloss Babelsberg wiederum parallel zur Karl-Marx-Straße zu entdecken. Insbesondere der „Uferpark“ rechts von der Villa Herpich lädt zum privaten Picknick und illegalen Baden ein; er gehörte übrigens ursprünglich zur Villa Sarre.
Editorial Design: Joulia Hoppen
The shore path at Griebnitzsee:
A curatorial essay by Verena Voigt M.A. (GFZK e.V.)
When I first discovered the diverse "fence constructions" at the Griebnitzseeuferpark in February 2021, we were looking for relics of the "Potsdam Wall": with unexpected success. My camera seemed to want to document the first explorations of the inner-German state border through ghostly, abandoned scenarios of milled Cyrillic characters, garden chairs & steps, fences & locks. During the joint "forensics" with Ruppe Koselleck and the students of the Art Department at the University of Potsdam (2021 | 2022), the artist Joulia Hoppen created the large-format series "Palimpsest 1-8", which documents the impenetrability of unresolved historical constructions that we encounter here. The discoveries in the former border area became "hauntings" for me in a history colloquium in which I always had the feeling that I had just been distracted from the most important thing.
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A multitude of analyses & perspectives, social processes & stopping points in history meet at the Griebnitzseeuferpark. Each of them could demand a memorial. A summary of the Kafkaesque scenarios lets the term "expropriation" shimmer and then fade again. Opponents of the regime were robbed of their property here (1933, 1945 and later). Regime supporters benefited in many ways. Restitutions were still slow even after 1989. Comparative legal practice, provenance research, administrative history - the extensive material from "After 1945" is still waiting for its scientific reflection. Everything and nothing is expected from politicians. Actually, nothing is expropriated here anymore. The 2.8-kilometer-long former patrol path of the GDR border guards along the southern shore of the Griebnitzsee became a popular walking and cycling path after the fall of the Wall. By 2004 and 2009, the lake shore was accessible to all books again. At some point, the new border fences began to grow higher and higher. Today, there are only six public entrances to the Griebnitzsee. There is a silence about history and its layers.
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The historical entanglements and administrative scandals in earlier and more recent times have created a conflict landscape almost three kilometers long here. The traces of the Jewish families expelled or deported from here have been almost completely erased. Public memorial stones point instead to Hiroshima and Nagasaki. The negotiators of the Potsdam Conference Harry S. Truman, Winton Churchill/ Clement Attlee and Joseph Stalin had taken up residence in the villas on the Griebnitzsee together with their delegations in the summer of 1945.
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The documentation of the citizens' initiative Griebnitzsee für Alle e.V. makes the vicissitudes since 2004 understandable: from the perspective of the residents of the villa colony, for whom the "closures" of the riverside path still mean a loss of accessibility.
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What does this have to do with art? From the summer semester of 2021, Ruppe Koselleck held the professorship for artistic practice in the field of art at the University of Golm for three semesters. Koselleck (*1967, lives and works in Münster) is a conceptual artist, philosopher and sociologist, equipped with a seismographic ability to perceive historical spheres of conflict. In July 2021, he and his students went out into the field for the first time: It was the year in which the installation POST-vs-PROTO-RENAISSANCE (54th Venice Architecture Biennale) by the Ukrainian artist Oksana Mas was still on display on the Griebnitzseeuferweg; next to the work of Kiddy Citny.
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The prospective art teachers do not identify “The Gardens of Paradise” of Oksana Mas's “Ghent Altarpiece” at first glance. The details of the close-up are much more important: Who actually painted the countless eggs? What are these strange, detailed motifs? Are they all politically correct? It all depends on the distance!
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Art is the attempt to heal a bereavement, the loss of completeness and the descent into a partial and fragmentary world. (…) Depending on the distance, the work disintegrates like a digital file of egg pixels, each of which represents the dramatic fate of humanity.
(e-Flux, May 9, 2011)
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When we return in 2022 with a second group of students, only fragments of the wall “Déjà vu – Icons of Freedom” (2013) by the artist Kiddy Citny remain. Oksana Mas’ installation has disappeared. While Ukraine is getting closer and closer to us through daily war reporting, the void left by Oksana Mas’ temporary installation becomes a double “loss”...